Buchvorstellung "Als der Bauer in die Reben ging"
Mühlheim - Die Mühlenstadt als idyllisches Weindorf?
Gemütliche Kneipen, urige Spelunken und grüne
Straußenwirtschaften? Die Romantik hielt sich im Leben des
16. und 17. Jahrhunderts wohl in Grenzen, bremst Dr. Hartmut
Gries die Phantasie. Auf der Spur des Weinbaus der
Vergangenheit - am Ziel gibt es neue Erkenntnisse.
Auf der Spur des Weinbaus der Vergangenheit - am Ziel gibt
es neue Erkenntnisse. Für sein jüngstes Buch, das der
Geschichtsverein nun zum Auftakt der 1200-Jahr-Feier
vorstellt, hat der einstige Geschichtslehrer drei Jahre lang
recherchiert. Dr. Hartmut Gries hat herausgefunden, dass in
Dietesheim und Lämmerspiel jeder Bauer, jeder Hof auch
Weinbau betrieb, in Mühlheim fast jeder. „Als der Bauer in
die Reben ging“ nennen die Historiker darum ihr aktuelles
Werk. Es ist das 35., das der Verein nach dem Krieg
veröffentlicht hat, sieht Vorsitzender Karl-Heinz Stier
einen weiteren Grund zu feiern. Es belegt, dass nicht nur im
„Weingarten uff gaiden Bergke“ Rebstöcke gediehen. Der Name
rührt übrigens von der Bezeichnung für Holzbude,
Verkaufsstand. Solche nutzten sie auf dem Gailenberg als
Schuppen zur Aufbewahrung von Werkzeugen. Die höchste
Erhebung in der Region, die zum Teil auch Hausener
Landwirten gehörte, war mit der gesamten Fläche von rund 40
Hektar Weinanbaugebiet. Wo heute die Kläranlage steht,
wurden sechs Hektar bewirtschaftet. Das größte Gelände aber
zog sich vom Rote-Warte-Turm bis zum Alten Friedhof: Auf 1,2
Kilometer Länge, etwa 70 Hektar, reiften dort um das Jahr
1600 die Trauben, belegt Dr. Gries.
Es handelte sich durchweg um bäuerliche Eigentümer und
privaten Anbau. Die Statistik über die Anbauflächen im
Deutschen Reich lässt errechnen: Im 16. Jahrhundert lag der
Verbrauch bei 150 Liter Wein pro Person und Jahr - heute
seien es 24, einschließlich Sekt. Die Erklärung für den
starken Weinkonsum klingt einleuchtend: Es gab weder Kaffee
noch schwarzen Tee, keine Fruchtsäfte, nur Milch und Wein,
„so sauer er gewesen sein möge“. Bier gab’s auch, war aber
teurer als Wein. Wohlhabende Bürgerfamilien, belegen
Haushaltsbücher, tranken zwischen 0,8 und 1,3 Liter am Tag,
bei Festivitäten mehr als vier Liter pro Nase. „Und jedes
Geschäft wurde mit Wein begossen.“ Über die Arten ist nicht
viel bekannt. Die „Massensorten“ Elbling und Weißer Heunisch
konnten nicht viel wert gewesen sein, denn selbst die Nonnen
der Hildegard von Bingen durften sie unverdünnt trinken! Die
Landwirte bauten immer einen „gemischten Satz“ an, manchmal
zehn Sorten, darunter solche für die Quantität, mit Aroma
und hohem Zuckergehalt, sowie widerstandsfähige Arten,
selbst rote und weiße gemixt, die dann mit Kräutern, Honig
oder gar Schnaps versetzt wurden. In der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts war’s wärmer, fand Gries heraus, was die
Weinkultur förderte. In der zweiten Hälfte ging’s mit der
Sommerwärme abwärts. Die Entwicklung der Ernte dokumentieren
Eintragungen des Hochstädters Konrad Appel, der auch
Hinweise aufs Klima notiert hatte. Die Lesen ab 1632 waren
schlagartig reduziert, was allerdings einen anderen Grund
hatte: Die Schweden waren einmarschiert. „Die haben alles
kassiert“, schildert der Buchautor, „haben die Fässer,
Fenster und Öfen zerschlagen und das Vieh vertrieben“.
Ackerland und Streuobstwiesen verdrängten den Wein
Nach dem 30-jährigen Krieg verließen die Holländer das
Deutsche Reich, die größten Weinmakler, die gute Tropfen
nach England exportierten. Fortan kauften sie in Frankreich
ein, das nicht zerstört war. Der Weinbau mit „marktfähiger
Qualität“ wurde hierzulande nur im Rheingau aufrecht
erhalten. „Die Herrschaften hatten keine Weinberge, so
verschwand der Anbau sang- und klanglos“, fährt der Fachmann
fort, „auch Personal und Konsumenten fehlten“. In Mühlheim
wurden die Wingerte wieder Ackerland und Streuobstwiesen –
der Beginn der Karriere des Äppelwois! Der Oberstudienrat i.
R. und Weinexperte Hartmut Gries hat die Lämmerspieler
Weinbauern beraten, für welche Rebsorten sich der Gailenberg
eigne. Früher wurde ein Zweig angeschnitten und in die Erde
gelegt. Nach dem Einschleppen der Reblaus, die Wurzeln
befällt und zerstört, war das so nicht mehr möglich. Heute
müssen resistente amerikanische Wildreben als Unterlage
genutzt und eine heimische Edelsorte aufgepfropft werden.
Auf dem Sandboden überm Basalt muss dann drei Jahre lang
stark gewässert werden.
Das Interesse des pensionierten Pädagogen, die kulturelle
Eigenheit des Weinanbaus in Mühlheim aufzuarbeiten, führte
ihn bis in die Archive der Universitäten von Würzburg,
Darmstadt, Kassel, Koblenz, Marburg und Düsseldorf. Dank der
Register zur Erhebung einer Sondersteuer im Jahre 1551 sei
jeder Einwohner mit seinem gesamten Besitz aufgelistet.
Beamte des Kurmainzer Amts in Steinheim hielten in der
Region Haus, Äcker, Wiesen und Weingärten fest.